Sobibór ist ein kleines Dorf in der Nähe des Bugs, dem heutigen Grenzfluss zwischen Polen, der Ukraine und Weißrussland. Nur wenige Kilometer entfernt liegt die Bahnstation Sobibór an der Bahnlinie zwischen Chełm und Włodawa. Abgelegen in einem sumpfigen und waldreichen Gebiet, befand sich hier bis ins Jahr. Orthodoxe Karwoche und Gedenktage der Befreiung der besetzten Gebiete und von Konzentrationslagern im April und Mai 1945: Zeit der Rückbesinnung auf ideologische Verirrungen, die in Zeiten intensiver Migration wieder an die Oberfläche gären. Michaela Prinzinger hat das ehemalige Vernichtungslager im ostpolnischen Sobibor besucht, von dem 1945 nichts mehr übrig war, da es schon vorher dem Erdboden gleichgemacht wurde. Ivar Schute, einer der dort arbeitenden Holocaust-Archäologen, hat eine Identitätsplakette gefunden, die Rückschlüsse zulässt auf eine Person jüdischer Herkunft aus Thessaloniki, die über Marseille und ein Lager in der Nähe von Paris in einen Transport nach Sobibor geriet. Doch in Sobibor gab es kein Entrinnen. Identitätsmarke des unbekannten Häftlings, Lager Sobibor, ©Ivar Schute Berlin – Sobibor, hin und zurück. ![]() Mein Gefühl wird immer stärker, ans Ende der Welt zu reisen. Finis terrae, ein Ort des Exils, ein Ort des Schreckens. Unfassbar viele hatten nicht das Glück, wieder zurückzukommen. ![]() Die Schätzungen liegen zwischen 170.000 und 250.000 Menschen, für die Sobibor zwischen Mai 1942 und dem 14. Oktober 1943, dem Tag des Aufstands, zu einem Ort ohne Wiederkehr wurde. Nicht einmal 50 haben das Vernichtungslager und den Krieg überlebt. Es war die zweite, zum Teil erfolgreiche Revolte jüdischer Gefangener gegen die SS in einem Vernichtungslager nach dem Aufstand von Treblinka. Nach seiner Niederschlagung wurde das Lager dem Erdboden gleichgemacht, niedergebrannt und mit Jungwald aufgeforstet. Ortsschild Sobibor, ©diablog.eu Die Bilder sind einem seltsam vertraut. Man kennt sie aus Hunderten von TV-Dokumentationen und Kinospielfilmen – den diffusen Nebel, die umliegenden Sümpfe, die schneidende Kälte, den schmutzigen Regen, den Stacheldraht, die abgehackten Rufe der SS-Offiziere, die anschlagenden Schäferhunde, das kalte Lachen der Verantwortlichen, die Perfidie der Vernichtung. Wie wird es sein, an diesen Ort zu kommen? Doch zunächst sitze ich im Zug, und bis zum Ende der Welt ist es noch weit. Plötzlich verbreitet sich ein seltsamer Geruch im Abteil, die Reisenden blicken sich an. ![]() Eine Minute später klärt sich die Sache auf, Feuerwehrautos stehen am Rand der Strecke, Rauchschwaden ziehen über die Häuser. Es brennt irgendwo. Mir fällt ein, dass Claude Lanzmann in seinem Film „Shoah“ Menschen aus Zlobek interviewt hat, dem Ort, der dem Vernichtungslager am nächsten liegt. Fast empört berichteten sie, sie hätten ständig die Fenster reinigen müssen. Jüdisches Haus, Wlodawa, ©diablog.eu Es sind noch ein paar Stunden bis Warschau, dann Umsteigen nach Lublin. Von dort bleiben noch anderthalb Stunden Autofahrt nach Wlodawa, der nächstgelegenen Stadt, wo es rustikale Hotelunterkünfte mit Hirschgeweihen und Wildschweinfellen an der Wand gibt. Es ist eine lange Reise zum Ende von Europa, fast bis nach Weißrussland und der Ukraine. Sobibor Überlebende![]() Am nächsten Tag sehe ich mit eigenen Augen, wie sich der Grenzfluss Bug durch die Landschaft windet, gesäumt von Birkenwäldern und Auen. Wenn man am polnischen Ufer steht, sind es nur ein paar Meter übers Wasser. Grenzfluss Bug, ©diablog.eu Die Gegend scheint prädestiniert für Pläne wie die sogenannte „Aktion Reinhardt“. Juden aus Deutschland, Österreich, Böhmen, Mähren und der Slowakei wurden hierher gebracht, auch aus Frankreich und den Niederlanden trafen Deportierte ein. Diese Menschentransporte wurden dokumentiert, sie erhielten Plaketten mit Nummern, sie wurden registriert. Über die „Judenaussiedlung“ im Osten weiß man wenig, die Betroffenen haben nicht einmal eine Nummer erhalten, ihre anonyme Asche liegt unter dem Humus von Sobibor. Kirche Sobibor, ©diablog.eu Nein, es ist nicht Sobibor selbst, das an den düsteren Ort grenzt. Das Dorf, das 2014 seine 600-Jahr-Feier beging, ist eher zufällig zum Synonym des Schreckens und der Unmenschlichkeit geworden. Aus dem heutigen Dorf stammt der Großteil der Arbeitskräfte, die bei der alljährlichen archäologischen Ausgrabung im Vernichtungslager mithelfen. Sie verrichten die groben Freilegungsarbeiten, die keine archäologische Ausbildung voraussetzen. Dadurch entwickeln die heutigen Einwohner ein Bewusstsein für das, was damals in ihrer Heimat geschah. ![]() Sobibor GedenkstätteDie Leute sind arm, Jobs sind Mangelware, das Honorar ist – für unsere Verhältnisse – nicht hoch, aber hier ist es begehrt. Letztes Jahr haben sich zwei von ihnen ineinander verliebt, der Ort des Schreckens wurde zum Ort der Liebe. Demnächst wollen sie heiraten. Man weiß, dass Überlebende aus Konzentrationslagern sich ins Leben stürzten, viele Kinder zeugten, nicht mehr an die Vergangenheit denken wollten. Wenn man an so einem Ort war, beginnt man zu verstehen. Erkennungsmarke von Eliazer Content, ©Ivar Schute Das erste Fundstück aus Sobibor, das ich zu Gesicht bekam, war die Dienstmarke von Eliazer Content, der Angehöriger der niederländischen Armee war.
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April 2019
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